Rundbrief Akademie GAÄD Dezember 2019 - Einleitung mit Bericht zum "WIR Kongress"

Kann ich das Sein erkennen,
dass es sich wiederfindet
im Seelen-Schaffens-Drange?
Ich fühle, dass mir Macht verlieh´n,
das eigne Selbst dem Weltenselbst
als Glied bescheiden einzuleben.

R.Steiner, Anthroposophischer Seelenkalender

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde,

Der Wochenspruch des Seelenkalenders zu Beginn der Adventszeit beginnt mit einer Frage. Einer Frage nach dem Schaffensdrang der Seele einerseits, und andererseits nach der eigenen Erkenntnis der Wirklichkeit. Kann das Licht der Erkenntnis selbst zum Feuer unseres Willens werden? Können wir Denken und Handeln seelisch in dieser Weise zur Deckung bringen?

Die Brisanz dieser Frage für die Medizin war in den letzten Wochen deutlich zu erleben. Was ist die Wurzel des pflegenden und des ärztlichen Handelns? „Care“ – ein schwer übersetzbares Wort. Wir kennen es von der „Intensive Care Unit“. Je nach Situation bedeutet es wohl: helfen wollen, die Gefahr wenden, die Krankheit erkennen und heilen wollen. Care, das kann bei einer Geburt oder im Begleiten eines Sterbenden auch zurückhaltendes Begleiten, menschliche Präsenz, professionelles Wahrnehmen und auch Nicht-Handeln bedeuten. „Tue nicht, und nichts bleibt ungetan“ – mit dieser Weisheit beginnt das Daodejing, die Gründungsschrift des Daoismus. Diese Weisheit hat auch in der Begleitung des akut fiebernden Kindes oder in der Wahrnehmung und Unterstützung der Eigenaktivität des Patienten ihre Bedeutung. Dem Patienten in der Haltung von Verbindlichkeit und Verbundenheit von Erkenntnis und Handeln zu begegnen, ist ein Wunsch, der auch heute viele junge Menschen beseelt, die sich der Krankenpflege, dem Hebammen- und dem ärztlichen Beruf zuwenden. Und dies gilt oft in besonderem Maße für diejenigen, die dabei ein Interesse für die Anthroposophische Medizin entwickeln.

Die aktuelle Realität im deutschen Gesundheitswesen wurde exemplarisch auf dem WIR-Kongress“ zu Schwangerschaft und Geburt im Stuttgarter Rathaus (25. bis 26.10.2019) beleuchtet. Mit dem Kongress gelang ein bedeutender Brückenschlag: Er wurde in jahrelanger Vorbereitung gemeinsam vom Klinikum Stuttgart/Olgahospital, einer der größten Kinderkliniken Deutschlands, von der Filderklinik, dem baden-württembergische Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, der GAÄD, dem Berufsverband der Hebammen und Mother Hood, der größten Elternorganisation Deutschlands, geplant. Das programmatische Eingangsreferat hielt die zuständige Staatssekretärin Baden-Württembergs, Bärbel Mielich (Sozialpädagogin), am folgenden Tag Ulrike Hauffe, stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsrates der Krankenkasse BARMER und langjährige Frauenbeauftragte des Landes Bremen. Und der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Prof. Dr. Anton J. Scharl, formulierte gegen Ende eines der abschließenden Statements. (Videodokumentation, 20 Min. – Zusammenschnitt)

Plenumsvorträge, Pausengespräche – Der WIR-Kongress bot viel, selbst für die kleinsten Zuhörer, die im Zentrum der Tagung standen. (Foto: Mölller)

In dieser bemerkenswerten Konstellation diskutierten mehr als 400 Teilnehmer*innen die aktuelle Lage, wie sie täglich von Eltern, Hebammen, Frauenärzte, Neonatologen und Pädiater erlebt wird. Es wurde deutlich, welches Potenzial in einer vertrauensvollen horizontalen Zusammenarbeit liegt. Zugleich zeigte sich, welche Frustration, Ineffizienz, steigenden Frühgeburten- und Sektioraten ein System zeitigt, das die Höhepunkte gesunder Lebensprozesse (Schwangerschaft und Geburt) primär unter einer krankheitsbezogenen Optik betrachtet. Ein System, das auf Misstrauen und Kontrolle aufbaut, und zwar gegenüber dem Ungeborenen und im Umgang mit den Schwangeren und Gebärenden und denen, rund um die Uhr im Einsatz sind, den Hebammen, Pflegenden und Ärzte. Die Gestaltungsmacht liegt heute weitgehend nicht bei diesen Beteiligten. Sie liegt bei einem ökonomisch-bürokratischen Überbau, der selbst eine Hauptursache steigender Kosten darstellt, dessen Mitarbeiter keine Nacht- und Wochenend-Dienstbereitschaft kennen und der eine stetig steigende externe Kontrolle über alle Prozesse ausübt. Dies alles ist verknüpft mit einer privatwirtschaftlichen Gewinn- und Konkurrenzlogik anstelle einer regional fundierten Gemeinwohlfinanzierung. In diesem System ist ein antibiotisch begleiteter Kaiserschnitt weitaus profitabler als eine professionell begleitete Entbindung auf natürlichem Wege, und wenige Gramm Mindergewicht entscheiden über Zehntausende von Euro. Unter dem Gesichtspunkt des Aufbaus einer nachhaltigen kindlichen Gesundheit, eines Empowerments der Mütter („Ich kann Geburt“) und Väter („Ich kann Familie“), einer gemeinschaftlichen Risikoabsicherung der Tag und Nacht im Einsatz befindlichen Hebammen, Ärztinnen und Ärzte, einer guten und effizienten horizontalen Zusammenarbeit aller Beteiligten und einer Schaffung der richtigen ökonomischen Anreize verfehlt dieses System seinen Sinn.

Die Konsequenz: Immer mehr gut ausgebildete Hebammen, Pflegefachkräfte, Ärzte und Ärztinnen verlassen das System, arbeiten nicht mehr mit oder steigen gar nicht erst ein! Sie erleben, dass in diesem System Denken, Fühlen und Wollen nicht zur Deckung kommen:

  • Auf dem Feld des Denkens, der Erkenntnis, erzwingt dieses System immer stärker die Lüge. Junge Assistenzärztinnen und -ärzte lernen als erstes ein Diagnose- und Codierungssystem, das einerseits unter der Maxime wirtschaftlichen Überlebens der Kliniken, andererseits unter einem quasi staatssozialistischen Kontrollsystem der Krankenkassen (MDK) dazu führt, dass codierte Diagnosen nicht mehr auf wahrer Erkenntnis, sondern auf dem ökonomisch erzielbaren und im System durchsetzbaren Grenznutzen basieren. Arztbriefe mutieren in ihren Diagnoseleistungen und Verlaufsbeschreibungen zu Abrechnungen. Dieses System begünstigt wiederum profit- und krankheitsorientierte technische Interventionen und bestraft präsent-umsichtige Zurückhaltung und Begleitung.
  • Auf dem Feld des Fühlens erleben die Beteiligten immer häufiger, dass sie sich am Abend eingestehen müssen, dass Erkennen, Erleben und Handeln in ihnen tagsüber nicht zur Deckung gekommen sind, dass die therapeutische Beziehung sich nicht richtig entfalten kann und einem stressbelasteten Selbstbezug weicht, dass die eigene Wahrnehmung nicht im Einklang steht mit dem, was man in der Dokumentation äußert, und dass das eigene Handeln von dem abweicht, was das eigene Gewissen fordert.
  • Auf dem Feld des Wollens geht dies mit einem abnehmenden oder auch krisenhaften Zusammenbruch des „Seelen-Schaffensdranges“ einher. Erstaunlich, wie oft das innere Feuer einem „burn out“ weicht. Hier wird erlebbar, dass der gesunde Mensch auf Dauer nicht gegen sein eigenes Fühlen und Denken handeln kann. An der gleichen Logik, an der die staatskommunistischen Systeme gescheitert sind (Ineffizienz durch zunehmende Kontrolle, Abwanderung durch Missachtung der individuellen Freiheit und Initiative, innere Emigration durch erzwungene Lüge) droht aktuell auch das Amalgam aus Leitlinien, Profitorientierung und Staatsdirigismus im Gesundheitswesen zu scheitern.

Ulrike Hauffe machte deutlich, dass das „Nationale Gesundheitsziel: Gesundheit rund um die Geburt“ hier schon viel weiter ist. Das gleiche Anliegen teilen auch Bärbel Mielich und der von ihr eingerichtete „Runde Tisch“ zu diesem Thema. Hier schimmern bereits das Ideal einer horizontalen, selbst verantworteten Zusammenarbeit und der Primat der Salutogenese im Gesundheitswesen auf. Wann aber werden entsprechende, systemverändernde Konsequenzen gezogen? Der Kongress selbst fordert diesbezüglich einen nationalen Gesundheitsgipfel „Geburt“ mit Einbezug der zuständigen Bundesministerien und aller Stakeholder… Für die Geburt gilt das Gleiche wie für das freie Handeln: Es birgt alle Risiken und ist doch zugleich und zuerst ein Höhepunkt menschlicher Existenz, der ebenso Selbstwirksamkeit wie Beschenktwerden beinhaltet. Eine Qualität, die jeder erhofft selbst zu erleben.


Auch die GAÄD war mit einem Stand in Stuttgart vertreten. (Foto: Marti)

Was bedeutet all dies für die Zukunft der Anthroposophischen Medizin? Gerade das Treffen zur Zukunft der ambulanten Anthroposophischen Medizin an der Universität Witten machte deutlich, dass der Lebensnerv, das Herzblut der Anthroposophischen Medizin sich in den eingangs zitierten Worten des Seelenkalenders spiegelt: Aus Erkenntnis und eigenem, seelisch erlebtem Antrieb handeln wollen. Das aber bedeutet unter den heutigen Umständen im Gesundheitssystem: Bewusst ein Change Agent zu werden! Ein Mensch, der nicht nur im Patienten, sondern ebenso im sozialen Zusammenhang einen Wandel herbeiführen will, in dem er im Gesundheitssystem arbeitet. Nur so können der innere Mut, das innere Feuer und die Begeisterung in der Arbeit für die Patienten wachsen. Es gilt, heute bereits im Studium bzw. in der Ausbildung – in der Vorbereitung auf eine ärztliche, pflegende, therapeutische Tätigkeit – diese innere Haltung zu entwickeln und zu stärken, um ein nachhaltiges Engagement im Gesundheitswesen unter Beibehaltung und Entwicklung der inneren Gesundheit zu ermöglichen.

Das fordert eine entsprechende Qualität der Ausbildung und berufsvorbereitender Seminare. Es gilt, junge Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und therapeutisch Tätige auf eine Berufswelt vorzubereiten, die ihnen zunächst nicht mit „Care“ begegnet, sondern in der sie sich selbst ständig in ihrer inneren Authentizität als gefährdet erleben. Die Berufswelt bietet heute eine reale Begegnung mit den mächtigen Gegenspielern – und damit Herausforderern – menschlicher Entwicklung, menschlicher Freiheit, wie sie die Anthroposophie wesenhaft beschreibt. Wer heute die Arbeitswelt des Gesundheitswesens betritt, wird dem begegnen, was Rudolf Steiner etwa in den „Michaelsbriefen“ (GA 26) als Ahriman – einem der Gegenspieler der positiven Entwicklung der Menschheit – beschreibt. Und er wird ihm nicht nur äußerlich, sondern in dessen Wirkung auf sich selbst begegnen. Damit ist eine Form der Intelligenz gemeint, der die Dimension der Verinnerlichung fehlt. Diese Intelligenz fixiert sich auf eine letztlich äußerlich bleibende, verstandesmäßige Kontrolle, weil ihr der innere Zugang und damit die Dimension des Vertrauens fehlen. Dieser Logik wohnt eine seelenlose Kälte, eine Unfähigkeit zu innerem, herzlich-seelischem Verbundensein inne, welche in unserem Zeitalter in solcher Macht hervortritt. Und diese Begegnung kann lähmen und dazu führen, dass man sich dieser Intelligenz unterordnet. Es ist naiv, zu erwarten, dass diese Kräfte um anthroposophische Einrichtungen einen Bogen machen. Allein die Qualität, wie man ihnen dort bewusst begegnet und sie schrittweise zu meistern versucht, kann hier ausschlaggebend sein. Die Arbeitswelt fordert permanent zu einer inneren Entscheidung auf, durch die ich erst in der Lage bin, mich mit einem anderen Menschen, anderen Wesen authentisch zu verbinden: sein Werden, sein Gesunden wirklich zu wollen und zu unterstützen. Nicht primär unter dem Diktat vermeintlicher Selbsterhaltung kalkuliert zu handeln, sondern so, wie ich es mir wünschen würde, wenn ich der andere wäre, der von mir behandelt, begleitet, gepflegt wird. Und dies in einer angemessen professionellen Haltung und im Lichte einer inneren Evidenz, die allen drei Säulen dieses Begriffes Rechnung trägt.

Sich dieser Herausforderung zu stellen, ist eine wichtige Perspektive im Netzwerk Aus- und Weiterbildung Anthroposophische Medizin, der sich das Akademieteam im Bunde mit der Initiative für Ausbildung in Anthroposophischer Medizin und allen Netzwerkbeteiligten verstärkt widmen möchte.

Georg Soldner

WIR-Kongress / Video zur Abschlussdiskussion:

Nationales Gesundheitsziel “Rund um die Geburt”:


Dieser Artikel erschien im Rundbrief 3/2019 der Akademie GAÄD

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